“Es waren sechs schöne Kinder, aber die Jüngste war die schönste von allen. Ihre Haut war so rein und fein wie ein Rosenblatt, ihre Augen so blau wie die tiefste See, aber ebenso wie alle anderen hatte sie keine Füße; der Körper endete in einem Fischschwanz”: So beschrieb Dänemarks bekanntester Dichter und Schriftsteller Hans Christian Andersen (1805 – 1875) die Titelheldin seines bekannten Märchens “Die kleine Meerjungfrau”. Am 23. August 1913 wurde an der Hafenpromenade von Kopenhagen die gleichnamige Bronzefigur des Bildhauers Edvard Eriksen (1876 – 1959) enthüllt. Und das Eriksen die Stimmung der literarischen Vorlage beeindruckend eingefangen haben muss belegen die Worte eines Augenzeugen der Einweihungsfestivität: “Da saß sie nun in all ihrer bescheidenen Anmut, und ein beifälliges Gemurmel ging durch die Reihen der vielen Zuschauer”.
Zu Beginn des letzten Jahrhunderts hatte ein Komponist den literarischen Stoff zu einem Balett für die Tänzerin Ellen Price verarbeitet. Brauereibesitzer und Kunstmäzen Carl Jacobsen (1842 – 1914) zeigte sich davon so beeindruckt, dass er 1909 beschloss eine Bronzeskulptur nach dem Ebenbild der Ballerina anfertigen zu lasse. Doch zunächst herrschte darüber uneinigkeit zwischen Bildhauer und Auftraggeber, wie die Skulptur auszusehen habe. Jacobsen wünschte sich eine Nixe mit Fischschwanz doch Eriksen wollte eine Menschenfrau mit Beinen. Zu guter Letzt einigte man sich auf einen Kompromiss: Die Figur erhielt Beine, deren Füße jedoch in einer Schwanzflosse zusammenliefen.
Jährlich eine Millionen Besucher
Nur 125 Zentimeter hoch und 175 Kilogramm schwer ist die Skulptur, die nun seit 100 Jahren auf einem Stein am Lingelinei-Kai sitzt und ihren Blick sehnsüchtig aufs Meer richtet und zum dänischen Nationalsymbol geworden ist. Geschätzte eine Million Besucher aus aller Welt kommen jährlich nach Kopenhagen um sie zu bewundern. “Die kleine Meerjungfrau ist nicht nur Dänemarks beliebtestes Fotografieobjekt, sondern sie kann von Besuchern des Landes in den unterschiedlichsten Formen auch als Souvenir mitgenommen werden“, lässt das dänische Fremdenverkehrsamt verlauten. Es gibt sie als Briefbeschwerer, als Schmuckstück, als Lesezeichen oder als Motiv auf Tellern und Untertassen. Ihrer Popularität reicht bis in den Fernen Osten. 2010 schickte Dänemark die kleine Meerjungfrau zusammen mit 1000 Litern Kopenhagener Hafenwasser als Botschafterin zur Weltausstellung nach Schanghai, wo sie auch die chinesischen Besucher verzauberte.Ihre Faszination dürfte dabei von der Tragik ihres Schicksals ausgehen. Als jüngste von sechs Töchtern des Meereskönigs sehnte sie sich immer nach einem Leben unter Menschen. Doch der Prinz den sie rettete, verschmähte ihre Liebe und bei seiner Hochzeit mit einer anderen starb die Meerjungfrau und wurde zu Meeresschaum.
Enthauptet
Aber nicht immer wurde ihr Zuneigung entgegengebracht. Im Januar 1998 verlor sie bereits zum zweiten Mal ihren Kopf, der beim ersten Mal sogar verschollen blieb. Auch wurde ihr schon ein Arm abgesägt, sie wurde bemalt und besprüht und sogar schon Opfer eines Sprengstoffanschlages. Doch das dänische Natianalsymbol ist nicht klein zu kriegen. “Nun stieg die Sonne aus dem Meer auf, die Strahlen fielen so mild und warm auf den Meerschaum, und die kleine Seejungfrau fühlte nichts vom Tode. Sie sah die helle Sonne, und über ihr schwebten Hunderte von durchsichtigen, herrlichen Geschöpfen“.